Interview von Olivier Berger/Südostschweiz mit Reto Mischol zu den aktuellen Themen um die Terroranschläge in Europa

Herr Mischol, geht die Welt unter?

RETO MISCHOL: Ganz bestimmt geht sie unter. Die Frage ist nur wann und warum. Allem Sein auf dieser Erde ist ein Ablaufdatum gesetzt, und das prägt seit Menschengedenken unser Denken und Handeln. Die Erde wird irgendwann untergehen, insofern sprechen wir von einer selbstverständlichen Tatsache, die jedoch durch die zunehmenden globalen Einflussmöglichkeiten des Menschen natürlich auch neue und durchaus auch beängstigende Fragen aufwirft.

Die Weltlage sieht tatsächlich düster aus.  Die Hiobsbotschaften folgen sich in immer kürzer Abfolge.

Wenn man sich die Weltlage anschaut und die schrecklichen aktuellen Berichte aus allen Ecken der Welt bei sich wirken lässt, so kann einem wirklich Angst und bange werden. Gleichzeitig wissen wir zum Beispiel aus der Sicherheitsstudie 2015 der ETH Zürich, dass das subjektive Empfinden von Sicherheit in der Schweiz sehr gross ist und die Bevölkerung grundsätzlich eine optimistische Zukunftshaltung einnimmt. Wir erhalten heutzutage aber so viele Informationen in Echtzeit und in den unterschiedlichsten Formen unterbreitet, dass sie sicher einen grösseren Raum in unserer Wahrnehmung einnehmen als noch vor 20 Jahren.

Bekommen wir also einfach zu viel mit von dem, was in der Welt passiert?

In der Tat bekommen wir zu viel und sicher auch zu Verstörendes mit. Der Mensch besitzt aber die wunderbare Gabe, in seiner Wahrnehmung unbewusst Filter nutzen zu können, welche den stetigen Informationsfluss aus der Umwelt auf eine verdaubare Menge reduzieren. Dies gilt auch für die Verarbeitung von medialen Inhalten. Wir nehmen, im hier besprochenen Fall, viele Schreckensnachrichten auf – vermutlich zu viele. Gleichzeitig findet eine automatische Prüfung in uns statt, die über wichtig/unwichtig und gefährlich/harmlos entscheidet. Dies hat noch nichts mit Abstumpfung zu tun, das ist ein ganz normaler und äusserst sinnvoller Prozess. Aus diesen so gefilterten Informationen konstruieren wir erst unsere eigene Realität, und es entstehen die entsprechenden Gefühlsempfindungen oder eben nicht.

Wie wichtig ist denn das Sicherheitsgefühl für die Gesundheit des Menschen?

Zu wenig Sicherheit führt zu erhöhtem Stress, und zu viel Stress macht uns krank. Das ist keine grosse Weisheit, erklärt jedoch auch mit, weshalb wir in den verschiedensten Bereichen soviel in unsere Existenzsicherung investieren. Auch staatliche Bemühungen – wie soziale Einrichtungen, unser Gesundheitswesen, Militär und Polizei – haben unsere Sicherheit zum Ziel. Wir versichern uns und legen für eventuelle schwere Zeiten etwas zur Seite, sofern wir das können. Gleichzeitig vermögen uns unsichere Zeiten auch zu motivieren, Neues zu gestalten und notwendige Veränderungsschritte anzugehen. Nackte Angst jedoch legt lahm und blockiert.

Ist Angst gewissermassen ansteckend? Gibt es eine Spirale der Verunsicherung der Öffentlichkeit?

Angst muss ansteckend sein, sie ist ein soziales Signal, welches das Überleben unserer Spezies über Jahrtausende entscheidend mitgesichert hat. Wir reagieren auf die feinsten emotionalen Signale unserer Mitmenschen mit eben solchen Empfindungen oder auch mit Fürsorgeverhalten, um zu beruhigen und zu beschwichtigen. Angst ist eine der Dimensionen, welche unsere sozialen Interaktionen mitbestimmt, und insofern kann man sie als ansteckend bezeichnen. Angst ist jedoch auch ein Mittel, mit dem Menschen gezielt verunsichert werden können. Wir kennen die Angst vor Fremden, vor Terror und Krieg – gleichzeitig wissen wir, dass die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering ist, durch ein solches Ereignis zu Schaden zu kommen.

Stellen Sie in der täglichen Praxis eine Zunahme von Angststörungen fest?

Nein, das könnte ich so nicht sagen. Ich meine jedoch festzustellen, dass existenzielle Ängste die Menschen mehr umtreiben als auch schon: die Mehrfachbelastungen für Eltern und ihre Familie durch gestiegene Lebenshaltungskosten, die Arbeitsplatzunsicherheit durch Umstrukturierungen, technologische Umwälzungen und nicht zuletzt der Verlust persönlicher sozialer Netzwerke durch Mobilitätsanforderungen der Erwerbswelt. Vereinsamung in der virtuell so vernetzten Welt ist ein grosses Thema. Erst danach kommen die schrecklichen weltweiten Ereignisse, welche verunsichern und verstören.

Wie beeinflusst die Angst unseren Alltag?

Angst kann fein und punktuell verunsichernd sein, sie kann lauern und sich dann im entscheidenden Moment mit ihrer ganzen Kraft manifestieren. Dann rüttelt sie an den Grundfesten der Persönlichkeit und lässt Zweifel aufkommen, ob das Leben überhaupt noch bewältigbar ist. Sie kann unseren Handlungsspielraum entscheidend einschränken, indem wir gewisse Situationen zu vermeiden beginnen und uns durch die Angst bestimmen lassen. Gleichzeitig stellt sie, wie schon gesagt, ein Sensorium dar, das Überleben sichert, indem sie entsprechende Hormone ausschüttet und uns in bedrohlichen Momenten in einen Zustand versetzt, der erhöhte Aufmerksamkeit und Bereitschaft zum Handeln möglich macht. Ein Leben ohne Angst ist ebenso undenkbar wie ein Leben in ständiger Angst.

Gibt es einfache Mittel gegen grosse und kleine Ängste?

Entscheidend ist die Bereitschaft, seinen Ängsten auch begegnen zu wollen und sie in ihrer Kraft zu reduzieren. Dafür stellt das psychologische Wissen viele ganz konkrete Techniken zur Verfügung, welche unmittelbar Entspannung und Entlastung möglich machen. Das ist der erste und einfachere Schritt in der Bewältigung von Ängsten. Der nächste und bedeutend grössere Schritt besteht in der Begegnung mit den angstauslösenden Situationen. Sind diese konkret und fassbar, so ist das meist relativ einfach. Bei den diffusen und subtil verunsichernden Auslösern wird es schwieriger und bedarf meist längerer Prozesse in professionellen Settings. Grundsätzlich, und das ist so banal wie auch bedeutsam, gilt es in seiner gesamten Lebensgestaltung eine zuversichtlich-vorwärtsgerichtete Haltung einzunehmen, mit vielen sozialen Kontakten und einer gesundheitsverträglichen Lebensführung.

Mit ein Grund für die Verunsicherung der westlichen Gesellschaft sind die schlechten Nachrichten aus aller Welt. Hilft wegschauen?

Wegschauen ist nicht immer gut und trotzdem kann es sehr hilfreich und im Sinne einer Selbstfürsorge wichtig sein. Ich denke, es geht nicht darum, ob wir uns den Ereignissen ausliefern oder ob wir sie einfach negieren. Sondern es geht mehr darum zu unterscheiden, wann und wie ich hinschaue. Selbst dann, wenn ich das Gefühl habe, alles spiele sich ausserhalb meines Einflussbereiches ab, gibt es Möglichkeiten zu gestalten – und sei es nur mit einer entschiedenen Haltung, die man in die Welt trägt.

Wo ist die Grenze erreicht, wo ich Dinge als Einzelner nicht mehr an mich heranlassen soll?

Immer dann, wenn das persönliche Gleichgewicht ins Wanken gerät, sollte dieses Signal ernst genommen werden. Dann heisst es, Abstand nehmen, und man muss sich selber Sorge tragen. Denn nur ein Mensch, der das Gefühl in sich trägt, auch Einfluss auf sich und seine Umwelt zu haben, kann Selbstverantwortung übernehmen. Und diese braucht es in unserem komplexen Zusammenleben mehr denn je. Findet nur Selbstaufgabe und Selbstaufopferung statt, so schwinden die Kräfte und Verzweiflung und Depression können die Folgen sein.

Welche Dinge machen dem Menschen Angst?

Schlussendlich geht es immer um die Liebe und um die Sicherheit. Wie geht es mir selbst und meinen Mitmenschen, wie zuversichtlich kann ich in die Zukunft blicken und ein Gefühl in mir tragen, dass ich nicht jeden Moment mit etwas Schrecklichem und meine Existenz Bedrohendem rechen muss? Es sind Dinge wie Gesundheit und Krankheit, Beziehungen und Verlust, die uns beschäftigen und welche unsere Lebensqualität negativ beeinflussen können.

Wie schafft man es als Einzelner, angstfreier durchs Leben zu gehen?
Menschen sind schon in schwierigeren Zeiten mehr oder weniger angstfrei durchs Leben gegangen. Wir wissen aus der Resilienzforschung, dass verschiedene persönliche Faktoren die eigene Widerstandskraft erhöhen können. Dazu gehören kognitive Fähigkeiten, die Art und Weise, wie wir Ereignisse interpretieren und welche Bedeutung wir ihnen beimessen, sowie auch emotionale Faktoren wie die Fähigkeit Emotionen und Handlungen zu kontrollieren und für uns sinnvoll zu bewerten. Darüber hinaus ist es entscheidend, inwieweit Menschen in der Lage sind, auch Unabänderliches zu akzeptieren und sich darauf einzustellen. Ein tragendes soziales Netz mit vertrauten Personen stellt einen weiteren wichtigen Schutzfaktor für Krisen dar.

Und wann soll man sich professionelle Hilfe suchen?

Die meisten Lebenssituationen können ohne professionelle Hilfe bewältigt werden, und oft hilft schon das offene Gespräch mit vertrauten Mitmenschen. Gleichzeitig ist es sinnvoll, sich frühzeitig in professionelle Hilfe zu begeben, denn beginnende Leidenszustände können leichter bewältigt werden als bereits chronifizierte. Oft hilft es auch, wenn man auf die besorgten Stimmen von Bezugspersonen hört, die von aussen die Entwicklung mit Sorge beobachten. Grundsätzlich gilt, wenn ein Verlust von Lebensfreude, Antriebslosigkeit und ein Rückzug feststellbar sind, so ist die Zeit zum Handeln reif, dabei ist Psychotherapie die erste Wahl.

Weltuntergang SO Juni 2016